Fastenpredigt von Regionalbischof i.R. Dr. Karl-Heinz Röhlin „Vom Zweifel zum Sinn“ am 03. März 2024

Liebe Gemeinde hier in der Kirche, liebe Mitgemeinde in den Heimen und an den Bildschirmen,

zunächst einmal herzlichen Dank für die Einladung, heute hier in St. Laurentius zu predigen, und für die freundliche Begrüßung durch Diakonin Annette Deyerl. Ich habe gar nicht mehr so genau gewusst, was ich in meinem Leben schon so alles gemacht habe – danke jedenfalls für die Erinnerung!

Für mich als gebürtigen Dettelsauer ist es schon etwas Besonderes, hier zu stehen. Schon als Schüler hatte ich hohen Respekt vor dem Dienst der Diakonissen und Diakone. Schon als Gymnasiast habe ich hier gerne die Predigten von Herrn Rektor Miederer gehört. Manche von Ihnen erinnern sich sicher an seine angenehme Stimme und seine Freundlichkeit.

Auch beruflich bin ich mit St. Laurentius verbunden. Im Jahr 2006 wurde ich hier in dieser Kirche als Rektor des Pastoralkollegs eingeführt. Zehn Jahre durfte ich das Pastoralkolleg leiten. Diese Zeit gehört für mich zu den schönsten Berufsjahren. Die Kurse fanden drüben im Haus der Stille statt. Neulich bin ich über den Zaun gestiegen und habe durch das Fenster in die Kapelle geschaut. Viele Erinnerungen an Andachten, Exerzitien und Gottesdienste sind in mir wieder aufgetaucht.

Das Thema für die Predigt heute lautet: „Vom Zweifel zum Sinn“. Ich durfte das Thema selbst wählen. Zweifel und Glaube, die Frage nach dem Sinn im Leben, beschäftigt mich seit der Schulzeit. Auch meine Entscheidung, Theologie zu studieren und dann Pfarrer zu werden, hängt damit zusammen. Für meine persönliche Sinnorientierung waren und sind zwei Quellen wichtig:

  1. die Bibel, und hier besonders die Gleichnisse Jesu, und
  2. die sinnorientierte Psychotherapie von Viktor Emil Frankl.

Ich bin sehr dankbar für die Gespräche und Briefwechsel mit ihm. Ich habe ihn als freundlichen, religionssensiblen und humorvollen Menschen kennengelernt. Frau Deyerl hat schon verraten, dass ich das Sinnkonzept Frankls mit der Seelsorge der Kirche verbunden habe. Einige Gedanken von ihm werden in der Predigt auftauchen. Kommen wir jetzt also zum Thema „Vom Zweifel zum Sinn“.

Punkt I: Stimmen des Zweifels

Von dem großen Theologen Karl Barth stammt der Satz: „Der Zweifel ist der ältere Bruder des Glaubens“. Zweifel und christlicher Glaube sind Geschwister. Sie wohnen nahe beieinander.

Blicken wir in die Heilige Schrift, dann bestätigt sie diese These. In der hebräischen Bibel begegnet uns der leidende Hiob. Alles hat er verloren. Seine Frau, seine Kinder, seine Gesundheit, seinen Glauben an die Gerechtigkeit Gottes. Seine Fragen, seine Zweifel schleudert er Gott entgegen. Wenn es dem guten Menschen schlecht geht, dann kann Gott nicht gerecht sein, so denkt Hiob. In den Psalmen klagen die Beter Gott ihr Leid: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ – oder: „Meine Feinde spotten über mich und trachten mir nach dem Leben!“

Die Psalmen der Bibel - dankbare Lobgesänge auf die Güte Gottes, aber eben auch Schreie des Zweifels in der Not. Immer wieder haben jüdische Gläubige Zuflucht bei den Psalmen gesucht. In den Konzentrationslagern der Nazis sind manche von ihnen mit einem Psalm auf den Lippen ins Gas gegangen. Im Neuen Testament zweifelt der jüngere Thomas an der Auferstehung Jesu: Seine Worte haben wir vorhin in der Lesung gehört: „Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meine Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich’s nicht glauben.“ Sehen, berühren, anfassen möchte Thomas den auferstandenen Christus. Thomas steht uns nahe. Bruder Thomas. Im Bild „Der ungläubige Thomas“ von Caravaggio blickt Jesus gütig auf Thomas.

In der Bibel begegnet uns der Jünger Judas Ischarioth. Er verrät seinen Herrn und Meister mit einem Kuss. So erzählen die Evangelien. Doch warum verrät Judas seinen Herrn? Ist es wirklich die Geldgier? Sind es wirklich die 30 Silberlinge? In der Bibelforschung wurde viel darüber spekuliert. Mir leuchtet folgende Erklärung ein:  Judas wird zum Verräter, weil er von Jesus zutiefst enttäuscht ist! Warum? Judas hoffte wohl, dass Jesus sich zum politischen Befreier aufschwingt und endlich als Anführer die römische Besatzungsmacht aus dem Land jagt. Judas also als ein von Jesus Enttäuschter. Einer, der an Jesus zweifelt, ja verzweifelt.  In seiner Verzweiflung nimmt er sich selbst das Leben.

Zweifel in der Bibel – hat Jesus manchmal selbst gezweifelt? An seinem Auftrag, an seiner Berufung, an seinem Leidensweg? Im Garten Gethsemane ringt er im Gebet: „Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!“ Er ringt sich durch: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Und dann Jesus letzte Worte am Kreuz: „Eli, Eli, lama asabtani?“ – übersetzt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ -  Stirbt Jesus mit einem Schrei der Verzweiflung auf den Lippen? Oder betet er den 22. Psalm, wo es weiter heißt: „Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts finde ich keine Ruhe.“

Fragen und Zweifel begegnen uns bei Hiob, bei den Jüngern Thomas und Judas. Und auch Jesus ringt um seinen Weg. Die Menschen der Bibel stehen mitten im Leben, sie stehen uns nahe. Sie stehen auch unseren Zweifeln heute nahe.

Drei Arten von Zweifel regen sich heute in uns und um uns herum:

 der intellektuelle Zweifel

  • der existentielle Zweifel und
  • unsere persönlichen Zweifel.

Der intellektuelle Zweifel begegnet uns in der Philosophie und in den Wissenschaften. Gerade in den Naturwissenschaften wird der Zweifel ja zur Methode. Im Experiment, im Labor oder durch Messen, Wiegen, genaues Betrachten soll eine Hypothese bestätigt werden. Für den Fortschritt in der Medizin, in der Technik und in der Wirtschaft gehört der methodische Zweifel sozusagen zum Beruf. Nur was sich verfestigen oder falsifizieren lässt, ist wissenschaftlich. Dieser intellektuelle Zweifel hat jedoch auch seine Grenze: Unsere Lebensfragen nach Sinn, Freiheit, Gerechtigkeit lassen sich nicht im Labor bewerten. Liebe, Freundschaft, Freiheit lassen sich nicht messen und wiegen.

Neben dem intellektuellen Zweifel begegnet uns heute in der Philosophie, in der Kunst und in der Literatur der existentielle Zweifel. In der Kunst gehört das Bild „Der Schrei“ von Edvard Munch zu den wohl treffendsten Bildern des 20. Jahrhunderts. In der Literatur hat Wolfgang Borchert mit seinem Drama „Draußen vor der Tür“ dem existentiellen Zweifel ein sprachmächtiges Denkmal gesetzt. Schreie der Verzweiflung, Fragen, Gottesfragen stellt der verzweifelte Kriegsheimkehrer Beckmann: „Oh, wir haben nach dir gesucht, Gott, in jeder Ruine, in jedem Granattrichter, in jeder Nacht. Wir haben nach dir gerufen, Gott! Wir haben nach dir gebrüllt, geweint, geflucht. Wo warst du da, lieber Gott? Wo bist du heute? Hast du dich von uns gewandt? Hast du dich ganz in deinen schönen alten Kirchen eingemauert, Gott? Hörst du unser Geschrei nicht durch die zerklirrten Fenster, Gott? Wo bist du?“

Bittere Fragen? Existentielle Fragen. Auf sie gibt es keine schnellen Antworten! Keine theologischen Erklärungen. Auf diese Fragen gibt es für mich keine rationalen Antworten. Wenn es überhaupt eine Antwort gibt, dann eine diakonische. Diese diakonische Antwort versucht Leiden zu binden, hört die Klagen an, verbindet die Wunden, sucht nach Hilfe und Therapie.

Schließlich noch unsere persönlichen Zweifel. Die tragische Trias Leid, Schuld und Tod gehört zu unserem Leben, ebenso die Trauer und Niederlagen. In uns brechen dann Fragen und Zweifel auf. Warum diese Behinderung? Warum die Schmerzen? Warum dieser schreckliche Unfall? In einem „frommen“ Lied heißt es: „Antwort auf alle Fragen gibt uns dein Wort.“ Ich halte das für falsch. Kein Mensch, keine Heilige Schrift, keine Wissenschaft beantwortet alle Fragen. Wir können und müssen mit offenen Fragen leben. Und trotzdem können wir ja zum Leben sagen. Damit komme ich zum Sinn:

Punkt II: Sinn finden

Viktor Frankl sagte bei einem Vortrag einmal: „Ich glaube, dass das Leben Sinn birgt unter allen Umständen und in allen Situationen.“ Sinn ist für Frankl immer persönlich und konkret. Es gibt für ihn nicht den Sinn des Lebens oder den Sinn der Geschichte. Es geht ihm um die persönliche Sinnfindung im Alltag, im Beruf, aber auch im Leiden. „Ich glaube, dass das Leben Sinn birgt unter allen Umständen und in allen Situationen.“ Ich weiß nicht, ob Sie diesen Satz unterschreiben würden. Sie hören diese Worte ja in ihrer konkreten Lebenssituation. Hier in St. Laurentius. Sie hören diese Worte vielleicht ans Bett gefesselt. Sie hören diese Worte vielleicht im Rollstuhl. „Ich glaube, dass das Leben Sinn birgt unter allen Umständen?“ Dieses Credo formuliert Viktor Frankl nach seiner Befreiung aus dem KZ, nachdem seine Eltern ermordet wurden und seine Frau im KZ ums Leben kam. Vor allem den Tod seiner Frau konnte Viktor Frankl kaum überwinden.

„Ich glaube, dass das Leben Sinn birgt.“ – Frankl konzentrierte sich zunächst auf den „kleinen“ Sinn, auf die Bewältigung des Alltags. Auf seine Aufgaben und seine Verantwortung als Arzt. Und dann entwickelte er in seinen Büchern und Vorträgen seine „Sinnzentrierte Psychotherapie“.

Frankl lenkt in den Gesprächen mit seinen Patientinnen und Patienten den Blick nach vorne. Er fragt nicht „Was geht nicht mehr? Was ist vorbei?“, sondern er fragt „Was ist trotz allem möglich?“ - Wer braucht mich? Welche Möglichkeiten stehen offen? Welche Beziehungen kann und soll ich pflegen? Was kann ich heute genießen? Wofür bin ich heute dankbar? Worüber freue ich mich heute? – Diese Änderung der Blickrichtung ist heilsam und gut. Und wenn Sie alles von dieser Predigt vergessen, dann nehmen Sie doch bitte die Frage mit „Was kann ich heute dankbar genießen und wofür bin ich heute dankbar in meinem Leben?“ Diese Fragen bringen uns auf eine wichtige Spur, die zum Sinn des Lebens führt. „Das Wir gewinnt“ – so lautet das Motto der Aktion Mensch. „Das Wir gewinnt!“

Die Diakonissen und die diakonischen Gemeinschaften pflegen das Wir. Gruppen und Kreise pflegen das Wir. Ich halte diesen Gemeinschaften für unseren größten Schatz. Gemeinschaft führt zur Sinnfindung. Gemeinschaft stärkt den Glauben. In seinem Buch „Gemeinsames Leben“ schreibt Dietrich Bonhoeffer: „Der Christus im Herzen des Bruders bzw. der Schwester ist oft stärker als der Christus im eigenen Herzen.“ Die Gemeinschaft stärkt. Sie wirkt sinnstiftend. Das ist ein großes Pfand der Gemeinschaft hier in St. Laurentius, an der Augustana-Hochschule. Mission EineWelt pflegt diese geistliche Gemeinschaft über Ländergrenzen und Kontinete hinweg.

Wo und wie stärkt der Glaube noch die Sinnfindung? Der heißeste Kandidat für den Sinn im Leben ist die Liebe. In den Armen eines liebenden Menschen fragen wir nicht nach dem Sinn im Leben. Wir spüren ihn hautnah. Die Gottesliebe, die Nächstenliebe und die Selbstliebe leuchten im Doppelgebot der Liebe auf. Gemeint ist nicht die gepredigte Liebe oder die romantische Liebe, sondern die Caritas, die Agape, die liebende Fürsorge. Leben wir in der Liebe, so lebt Gott in uns und wir in ihm. Damit sind nicht alle existentiellen und intellektuellen Fragen beantwortet. Aber sie erscheinen in einem neuen Licht. Wir können, ja müssen mit offenen Fragen leben. Aber wir können in Gott still werden. Auf ihn warten und wie der Beter des 139. Psalms darauf vertrauen: „Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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