Predigt zum Jahresfest, 01.05.2018

I.

In den Briefen des Neuen Testamentes ist immer wieder davon die Rede, dass wir Christen mit unserer Taufe den auferstandenen Christus wie ein weites weißes antikes Gewand anziehen und so mit seiner Herrlichkeit bekleidet und umhüllt werden. Wir bewegen uns damit im Raum des Christus-Gewandes. So heißt es etwa im Kolosserbrief im 3. Kapitel:

... denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen und den neuen angezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat. Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave, Freier sondern alles und in allen Christus. So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld ... Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar.“

(Kol 3, 9b-15)

Vergleichbare Stellen finden sich im Römerbrief, wo Paulus dazu auffordert, den Herrn Jesus Christus anzuziehen (Röm 13, 14), im Galaterbrief, wo davon die Rede ist, dass die Getauften Christus angezogen haben (Gal 3, 27), und im Epheserbrief, wo zum Anziehen des neuen Menschen aufgefordert wird (Eph 4, 24).

II.

In der hier im Chorraum von St. Laurentius aufgebauten textilen Installation „Leichte Raumschwere“ von Beate Baberske, der künstlerischen Leiterin der Neuendettelsauer Paramentik, wird etwas von diesem grundlegenden geistlichen Vorgang sinnlich anschaubar: Wir sind als getaufte Christen umkleidet mit einem geistlichen Gewand und bewegen uns darin. Unser menschlicher Körper wird überformt durch das Christus-Gewand. Der auferstandene Christus hüllt uns ein. Wir treten in den Raum seines Leibes ein.

Wer sich in diese textile Installation begibt, beginnt den Raum um sich herum anders zu sehen. Er tritt in die Christus-Perspektive ein. Umgekehrt wird der, der sich in diesen textilen Raum wie in ein weites Gewand birgt, auch von außen verändert wahrgenommen. Wir werden durch dieses neue Kleid zu Auserwählten Gottes, zu seinen Heiligen und Geliebten. Und mit diesem neuen Gewand zieht der Friede Christi ein. Wer sich dem textilen Raum der Installation aussetzt, kommt zur Ruhe. Wie in einem wunderbaren Akt des Tausches beginnen wir etwas davon sinnlich zu ahnen, wie der auferstandene Christus mittels dieses weiten Gewandes in uns zu leben beginnt und wir in ihm. Machen auch Sie im Anschluss an den Gottesdienst diese Erfahrung und treten Sie in den textilen Raum im Raum ein!

Der gestaltende Umgang der Textilkunst mit dem Kirchenraum und seinen einzelnen Ausstattungsstücken greift die grundlegende neutestamentliche Metapher vom Einhüllen in das neue Gewand auf und macht uns diesen geistlichen Vorgang an der zentralen Stelle des Kirchenraumes, im Chorraum zwischen den beiden Altären der St. Laurentiuskirche, sichtbar. Aber: Es ist noch kein vollendetes, völlig klares Sehen, sondern ein Sehen wie durch einen Schleier hindurch, der erst dann weggezogen wird, wenn wir dem Auferstandenen einst von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten.

Verhüllen, Umhüllen und Enthüllen stellt einen elementaren Vorgang dar. In den Abendmahlsgottesdiensten der lutherischen Kirche ist diese Praxis erst durch Wilhelm Löhe und seine Neuendettelsauer Gottesdienstarbeit wieder so selbstverständlich geworden, dass sie von uns kaum mehr bewusst wahrgenommen wird: Die Abendmahlsgeräte Kelch, Kanne, Hostiendose und Patene stehen, wie hier in St. Laurentius bei der Feier der Deutschen Messe üblich, mit einem weißen Tuch verhüllt auf dem Altartisch. Bereits beim Betreten des Kirchenraumes kann ich ablesen: Heute wird hier in diesem Gottesdienst das Heilige Abendmahl gefeiert. Aber noch bleiben die Geräte für die Feier des Heiligen Mahles durch die textilen Hüllen unseren Blicken entzogen. Aber ihre Gestalt ist darunter bereits zu ahnen. Erst während der Abendmahlsfeier, in der Regel unter dem Gesang des „Heilig, heilig, heilig“, werden die Abendmahlsgeräte dann enthüllt und in Gebrauch genommen. Nach der Abendmahlsfeier, noch vor dem Dankgebet, werden sie wieder unseren Blicken entzogen, wenn die Liturgin oder der Liturg sie zusammen mit dem Mesner oder der Mesnerin mit einem weißen Tuch, dem sogenannten Velum, verhüllen.

Das textile Verhüllen und Enthüllen der Abendmahlsgeräte auf dem Altartisch weist hin auf den Geheimnischarakter der Begegnung mit dem auferstandenen Christus in der Abendmahlsfeier. Hervorgehoben werden die Kontaktstellen der Gottesbegegnung. Aber die Geräte werden dem dauernden Zugriff des Auges entzogen und erst zur Feier selbst enthüllt und sichtbar. Die Verhüllung dient der Einprägung und Bewusstmachung des Verhüllten. Die Verhüllung lässt noch erkennen bzw. ahnen, was durch sie verhüllt wird. Sie schützt aber zugleich das Verhüllte, hüllt es ein, und bleibt doch ein Stück durchlässig.

Die umfassende textile Dimension der gottesdienstlichen Feier ist uns in der Regel nur wenig bewusst. Wilhelm Löhe, der Begründer der evangelischen Paramentik, hat im 19. Jahrhundert diese Praxis des Verhüllens und Enthüllens der Abendmahlsgeräte wieder neu ins Bewusstsein seiner feiernden Gemeinde gerufen. Mit der Gründung der weltweit ersten evangelischen Paramentenwerkstatt hier in Neuendettelsau im Diakonissenmutterhaus vor 160 Jahren hat er dafür ein bewusstes Zeichen gesetzt. Und er hat in seiner 1857/1858 veröffentlichten Schrift „Vom Schmuck der heiligen Orte“ diese Praxis des Verhüllens der Abendmahlsgeräte in Beziehung zu den leinenen Grabtüchern gesetzt, mit denen der vom Kreuz abgenommene Leichnam Jesu von den Freunden eingehüllt und ins Grab gelegt wird. Die drei Frauen am Ostermorgen finden im Grab lediglich die kunstvoll zusammengefalteten Leinentücher vor. Der Engel teilt ihnen mit: „Der Herr ist auferstanden.“

Wilhelm Löhe ging es mit dem textilen Verhüllen und Enthüllen, mit dem bis heute hier in St. Laurentius geübten kunstvollen Zusammenfalten der Abendmahlstücher während der Abendmahlsfeier, darum, an diese Grabtücher aus dem Grab Jesu zu erinnern.

Wir als feiernde Gemeinde spüren mit unseren Augen etwas von dem, was die drei Frauen am Ostermorgen erlebten, als ihr Blick auf die Grabtücher im Grab fiel. Der Umgang mit den Tüchern bei der Abendmahlsfeier setzt in eine mit den Händen und mit den Augen greifbare Beziehung zur Metaphorik der Grabtücher Jesu. Wie die Frauen am Ostermorgen im leeren Grab werden wir zu haptisch-optischen Zeugen eines menschlicher Vorstellungskraft zugleich entzogenen Geschehens. Wir begegnen im Heiligen Mahl dem auferstandenen Herrn leiblich spürbar. Und doch bleibt er uns auch wieder entzogen.

III.

Die textile Rauminstallation „Leichte Raumschwere“ nimmt diese leiblich spürbare Begegnung mit dem auferstandenen Christus auf und stellt sie uns bewusst überdimensioniert im Chorraum vor Augen. Sie macht sie uns mit den Händen wie mit den Füßen erlebbar, indem sie in den gewohnten Kirchenraum eingreift und unsere Sehgewohnheiten als Gottesdienstgemeinde verändert. Paramentik ist damit textile Raumkunst für den Kirchenraum. Sie greift auf Zeit in den Kirchenraum gestaltend und verändernd ein. Dazu inszeniert sie das Kirchenjahr hindurch ein Spiel der liturgischen Farben mit dem Kirchenraum, seiner Ausstattung, den im Gottesdienst handelnden Personen und weiteren unterstützenden Sinneseindrücken. Paramentik schafft damit eine spezifische Atmosphäre der gottesdienstlichen Feier und schreibt diese in den Kirchenraum ein.

Wilhelm Löhe hat 1857/1858 im „Schmuck der Heiligen Orte“ einen folgenreichen Paradigmenwechsel für die Paramentik vorgenommen: Nicht die Person des Priesters wie in der römisch-katholischen Kirche wird mit einem festlichen Gewand mit der liturgischen Farbe geschmückt, sondern die Kontakt- und Begegnungsstellen im Gottesdienst mit dem auferstandenen Christus, nämlich Kanzel, Taufstein und Altar. Darin liegt der Ursprung der evangelischen Praxis der Paramente im Kirchenraum. Beate Baberske erweitert mit ihren raumbezogenen textilen Installationen den Aufgabenbereich der Paramentik konsequent auf den gesamten gottesdienstlichen Raum.

Evangelische Paramentik trägt für den Schmuck der Begegnungsorte mit dem auferstandenen Christus künstlerische Verantwortung. Damals, zur Zeit Wilhelm Löhes, bestand keine Möglichkeit der Gestaltung der Amtskleidung der Pfarrer, da der schwarze Talar mit Beffchen im 19. Jahrhundert amtlich von der Landesherrschaft vorgeschrieben wird und keine Gestaltungsspielräume zulässt. Zudem Zurückhaltung, die Person der Geistlichen zu sehr in den Vordergrund zu rücken, da sie die Christusbegegnung zwar vermitteln, aber nicht wie der katholische Priester aufgrund einer besonderen Weihevollmacht Christus im Gottesdienst vertreten. Die heutige Praxis lässt neben dem schwarzen Talar mit Beffchen auch die Albe und die Stola als liturgische Kleidung der evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrer zu. Die Stola begegnet dabei in der entsprechenden Kirchenjahresfarbe. Und auch an Wilhelm Löhes Wirkungsort wird damit heute in den Gottesdiensten möglich, was ihm damals noch in seiner Kirche verwehrt war.

IV.

Wilhelm Löhe hat in seiner Zeit eine typische Aufteilung des heiligen Dienstes in der Kirche nach Geschlechtern vorgenommen, die wir heute als fremd empfinden. Der Frau, repräsentiert in der Diakonisse, kam der Dienst für den Schmuck des Kirchenraumes und der Dienst an den Armen, Kranken und Benachteiligten zu, dem Mann dagegen der Dienst der Verkündigung, der Sakramentsverwaltung und der Seelsorge. Beide Dienstbereiche waren für Wilhelm Löhe aber gleichwertig, und beide setzten deshalb eine umfassende Bildung voraus. Das Neuendettelsauer Diakonissenhaus war in seinen Anfangsjahren ein Ort der geistlichen Bildung für junge unverheiratete Frau, die zum Dienst in der Kirche ausgerüstet werden sollten: Die Diakonisse, so Wilhelm Löhe, trägt in der einen Hand die Ölflasche des barmherzigen Samariters, und in der anderen Hand die Flasche mit dem Salböl, mit dem die unbekannte Frau Jesu Füße kurz vor seinem Tod salbt. Nicht zufällig spricht Wilhelm Löhe in seinem Plan für die Paramentenarbeit der Diakonissen von Neuendettelsau von einer „hohen Schule der Diakonissenanstalt für weibliche Handarbeit“, also von einer Akademie, und erhebt die Paramentik zum entscheidenden Unterrichtsgegenstand.

Heute, nachdem auch der evangelische Pfarrberuf selbstverständlich für Frauen zugänglich ist, ließe sich im Sinne Wilhelm Löhes eine neue Aufteilung des heiligen Dienstes in der Kirche vornehmen, im Zusammenspiel der einzelnen Künste, zwischen Verkündigung, Raumkunst und Musik. Wie wir heute mit der Installation „Leichte Raumschwere“ erleben, steht dem Dienst an Altar und Kanzel der Dienst der schönen Künste gegenüber, als gleichrangige Ausdrucksform des Dienstes in der Kirche. Und das Miteinander dieser Künste im Kirchenraum zielt darauf, uns als Gottesdienst Feiernde zu sensibilisieren für die Christus-Begegnung, die sich beispielhaft gegenüber den der Diakonie anvertrauten Menschen in ihren Einrichtungen vollzieht. Der Auferstandene Christus tritt uns im anderen, im Mitmenschen, gegenüber.

V.

Evangelische Paramentik ist umfassende textile Raumgestaltungskunst auf der Grenze zwischen professionellem künstlerischen Tun und geistlicher Übung. Beate Baberske steht mit ihren inzwischen schon zum „Markenzeichen“ der Neuendettelsauer Paramentik gewordenen textilen Rauminstallationen in dieser Tradition. Sie macht mit ihren raumbezogenen textilen Arbeiten etwas sichtbar, das mit einer tiefen geistlichen Erfahrung verbunden ist, und gestaltet diese anschaulich, das heißt, mit den Sinnen zugänglich, in einer unserer Zeit angemessenen künstlerischen Sprache.

Paramentik als temporäre textile Raumgestaltungskunst ist anlaß- wie ortsbezogen. Was die klassische Paramentik für den Kirchenraum leistet, wird hier mit der Installation „Leichte Raumschwere“ ausgeweitet und vergrößert. Die Installation bezieht den ganzen Kirchenraum und die in ihm Gottesdienst Feiernden mit ein. Wir begegnen einer umfassenden Kunst der Bereitung des heiligen Ortes. Durch die Verhüllung des Chorraumes wird etwas hervorgehoben, das normalerweise nicht bewusst wahrgenommen wird, eher selbstverständlich bleibt: Dass wir mit unserer Taufe Christus anziehen wie ein weites Gewand.

Wilhelm Löhes Grundgedanke, als er 1857 den Umgang mit den heiligen Orten in die Unterrichtsfächer des Neuendettelsauer Diakonissenhauses aufnahm, lautete: Am Umgang mit den heiligen Orten, an der Pflege der Kontaktstellen des Wirkens des auferstandenen Christus wird der Umgang mit dem Zuwendung bedürftigen Nächsten eingeübt. Dahinter stand die Vorstellung, dass die in der Armen- und Krankenpflege tätigen Diakonissen über dieser gestalterischen Einübung im Kirchenraum etwas zu ahnen beginnen von der Würde, die sie den ihnen anvertrauten Kranken und Pflegebedürftigen entgegenbringen sollen: So, als ob sie in ihnen Christus, dem Herrn, gegenübertreten.

Für uns heute als Gottesdienst feiernde Gemeinde bedeutet dies: Am sorgfältigen Umgang mit dem Kirchengebäude ist für den Lebensgottesdienst zu lernen. Sensibel zu werden und aufmerksam dafür, wie die Menschen, die uns begegnen, die uns anvertraut sind, Ebenbilder Gottes und Gotteskinder sind, in aller dem Leben möglichen Entstellung. Genaues Sehen lernen ist der Dienst der Textilkunst im Kirchenraum. Dieser ist kein Rückzugsort, sondern ein Sensibilisierungs- und Wahrnehmungsschärfungs-Ort. In ihm geht es um den Dienst für das Leben selbst. Am Umgang mit dem textilen Schmuck der heiligen Orte wird für den Umgang mit dem Zuwendung bedürftigen Nächsten gelernt, mit den Augen und mit den Händen, um ihm etwas zurückzugeben von der Würde, die er in seiner Gottebenbildlichkeit besitzt, ungeachtet ihrer Entstellung durch seinen Lebensverlauf, durch Krankheit Schmerz, Leid.

Wilhelm Löhe hat für die Arbeit der Paramentenwerkstätten eigene Gebete verfasst. Mit ihnen wird deutlich, dass es in der evangelischen Paramentik neben höchster künstlerischer Qualität immer auch um geistliche Vorgänge geht, die spürbar, anschaulich und gestaltbar werden. So möchte ich mit einer von Wilhelm Löhes Paramentenkollekten schließen. Sie nimmt die schon erwähnte Grabtuch-Metaphorik des Ostermorgens auf, stellt uns als Gottesdienst feiernde Gemeinde das leere Grab am Auferstehungsmorgen mit den Engeln und den gefalteten leinenen Grabtüchern vor Augen, die noch zuvor den Leib des toten Christus umhüllten, der nun auferstanden ist und auch uns ewiges Leben schenkt. Wilhelm Löhe schreibt:

„O Herr,

der du von Joseph, Nikodemus und den Frauen

in Gnaden angenommen hast

die Leinwand und die Grabtücher

zur Verhüllung und Bestattung des Leichnams

unsers Herrn Jesu Christi:

Verleihe uns, dass wir für deine Altäre

und für den Leib,

der uns von ihnen zu unserer Seligkeit gereicht wird,

leinene Feiergewande zum Zeugnis unsers Glaubens

an dessen Gegenwart bereiten dürfen.

Durch denselben unsern Herrn Jesus Christus, der mit dir und dem heiligen Geist ein wahrer Gott gelobt sei in Ewigkeit.

Amen.“

Professor Dr. Klaus Raschzok zum Jahresfest der Diakonie Neuendettelsau am1.5.2018, St. Laurentius Neuendettelsau

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