Predigt vom Sonntag, 17.03.2019

Fastenpredigt zum Thema: „Kirche und Medien: Vom Ringen um die Wahrheit“; Kolosser 3, 16; Thema der Predigtreihe: „Demokratische Streitkultur: Ehrlichkeit vs. Populismus“; Sonntag Reminiscere, 17.3.2019; 9.30 Uhr; St. Laurentius, Neuendettelsau; Alexander Jungkunz

Der Predigttext für diesen Gottesdienst steht im Brief des Paulus an die Kolosser. Wer die erstaunlich oft sehr treffenden Herrnhuter Losungen liest, dem ist dieser Text in dieser Woche schon einmal begegnet, am Donnerstag. Er findet sich im dritten Kapitel, Vers 16, und heißt: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in Wahrheit / Weisheit.“

In der Einladung zu dieser Predigtreihe steht: Lehrt und ermahnt einander in Wahrheit. Da dachte ich bei der Vorbereitung: Prima, da geht es um Wahrheit – ein wunderbares Thema, um sich mit dem Motto der diesjährigen Fastenreihe auseinanderzusetzen, die ja lautet: „Demokratische Streitkultur: Ehrlichkeit vs. Populismus“. Und ich wählte mein Thema dann so: „Kirche und Medien: Vom Ringen um die Wahrheit“.

Danach aber, beim Vorbereiten und Nachlesen in der Bibel, fand ich diese „Wahrheit“ im Kolosserbrief gar nicht mehr, sondern stattdessen in allen Übersetzungen den Begriff „Weisheit“: Lehrt und ermahnt einander in Weisheit. - Was nun: Wahrheit oder Weisheit? Vielleicht ein Übersetzungsproblem, hieß es nach Rückfrage hier in Neuendettelsau. Hier die theologische Auskunft, ich zitiere: „Im griechischen Urtext steht in Kolosser 3,16 sophia für Weisheit. Das ist ziemlich eindeutig. Wahrheit wäre alätheia. Ich finde auch keine passende Übersetzung als Quelle, in der Wahrheit vorkäme. Ich tippe auf eine bewusst freie Übertragung des Bibeltextes oder schlicht auf eine Verwechslung bei den Nomen. Vielleicht haben wir etwas verwechselt? Lutherübersetzung 2017: Weisheit.“ Soweit die Auskunft aus Neuendettelsau.

Also: Weisheit. Lehrt und ermahnt einander in Weisheit. Und/oder Wahrheit.

„Kirche und Medien: Vom Ringen um die Wahrheit“ – so heißt meine Überschrift.Haben Kirche und Medien denn überhaupt Verbindendes? - Erstaunlich viel sogar, finde ich. Schauen wir mal.

Pfarrer und Journalisten haben einiges gemeinsam:

· Wir sind eine Art Seelsorger und Kümmerer: Sie in den Kirchen und Gemeindehäusern, wir etwa mit dem Lesertelefon oder mit Mails und Anfragen von Lesern.

· Wir werden gefragt, ob etwas stimmt, also wahr ist – wir wegen Sachfragen, Theologen wegen Glaubensfragen.

· Manche Journalisten schreiben Predigten statt Leitartikel, manche Pfarrer predigen Leitartikel statt Predigten.

· Wir haben ziemlich ähnliche Probleme: Unsere wichtigsten Produkte sind zusehends weniger gefragt, unsere Kunden werden weniger. Sie in den Kirchen erleben einen Mitgliederschwund, die Austrittszahlen sind alarmierend. Wir erleben einen Auflagenschwund, die Leserverluste sind alarmierend. Wir schrumpfen beide – jedenfalls mit unseren „Kernprodukten“ Gottesdienst und Tageszeitung.

· Wir experimentieren beide mit neuen Formaten und mit Veränderungsprozessen. In der Landeskirche erleben Sie gerade PUK, also den Umstrukturierungsprozess „Profil und Konzentration“ – und manche sehen darin, nicht völlig unbegründet, nur mal wieder einen neuen Stellenkürzungs- und Sparplan. Sie legen Gemeinden zusammen, sie bieten neue Gottesdienstformen an, sie gründen Jugendkirchen – vieles aus der Not geboren und aus dem Druck, mehr und jüngere Menschen zu erreichen. Und das durchaus erfolgreich.

· Wir haben ganz ähnliche Probleme. Die Medienbranche erlebt gerade 2019 einen neuen Schrumpfungsprozess, der in etlichen Häusern brutal ausfällt. Fusionen, Schließungen, Stellenabbau. Bei uns im Haus läuft der Wandel ohne brutale Schnitte, aber durchaus auch spürbar. Wir experimentieren mit digitalen Formaten, wir schichten Ressourcen um, wir investieren zugleich aber in die gedruckte Zeitung, die in drei Wochen mit neuem Layout erscheint. Ein Spagat – bei Kirchen wie bei Medien: Wir wollen und müssen das schrumpfende Stammpublikum halten, wir wollen und müssen aber auch jüngere Menschen erreichen. Das aber geht nur mit einem zunehmend differenzierten Angebot.

· Noch eine Gemeinsamkeit zwischen Pfarrern und Journalisten, und da kommen wir wieder aufs Thema der Predigt: Beide Berufe versuchen, Wahrheiten zu verkünden. Dabei aber tun sich die Pfarrer eindeutig leichter als wir Journalisten. Denn die Geistlichen verkündigen mehr oder weniger absolute Wahrheiten, Gottes Wahrheiten. Sie sind auch Sprachrohr einer ewig gültigen Sache, einer sehr eindeutigen Sache. Ein Beispiel: „Ich bin der Weg und die Wahrheit (da ist sie wieder) und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Johannes 14, 6): Das ist eine klare, eindeutige, radikale Ansage – absolut. Widerspruch unmöglich. Das ist Glaubens-Wahrheit, und es ist Glaubens-Sache.

Bei unserer Arbeit dagegen geht es um Wissens-Wahrheit: Wir müssen, sollten jedenfalls, möglichst genau wissen, was wie wo warum wann geschehen ist, um die fünf Ws des Journalismus aufzuzählen, die zu einer Nachricht gehören. Es geht um Fakten – und auch um ihre Einordnung. Daher lernen wir unser Handwerk, das Recherchieren und Kommentieren, das Interviewen und Schreiben: um möglichst nahe heranzukommen an die Wahrheit. Mehr – und darum geht es heute auch – mehr als diese Annäherung an die Wahrheit ist gar nicht möglich.

Schauen wir noch einmal auf den Predigttext von heute: Lehrt und ermahnt einander in Wahrheit / WEISHEIT.“ - Puuh. Wissen Sie, was mir da beim Blick auf meine Branche als erstes in den Kopf kommt? Erhobene Zeigefinger. Vielleicht in einer Redaktionskonferenz. Lehrt und ermahnt einander in Weisheit. Da denke ich, ehrlich gesagt, an eine Versammlung von ziemlich vielen Besserwissern – dazu neigen nämlich gerade Journalisten nicht selten. Wir glauben zu oft, dass wir ganz genau wissen, was Sache ist. Aber je mehr wir uns dann hineinknien in ein Thema, desto mehr merken wir, wie komplex das doch ist. Dennoch verkünden wir ziemlich oft Botschaften in einem Brustton der Überzeugung, der vielleicht, aber auch nicht immer, zu Pfarrern passt, schlecht aber zu Journalisten.

Manche von uns glauben, sie hätten auch eine Art Mission, eine eindeutige Sendung, einen Auftrag: Menschen zu missionieren für ihre Botschaft, für ihre Ziele, für ihre Meinung. Das aber ärgert viele Leser zu Recht, einige wenden sich ab von uns. Und zu Recht mahnen viele eine strengere Trennung zwischen Meinung und Nachricht an.

Sie schätzen durchaus Meinungsbeiträge als hoffentlich kundige Einordnung. Aber sie wollen, dass sie getrennt sind von Nachrichten, und dass diese Nachrichten nicht wertend oder kommentierend daherkommen. Das aber tun sie oft, zu oft.

Gewiss: Wir Medienmacher leben von Zuspitzungen und kommen ohne sie nicht aus. Jede Überschrift bildet nur einen Bruchteil einer oft viel komplexeren Meldung ab. Jeder Kommentar spiegelt eine pointierte, also ebenfalls zugespitzte Meinung wider – dass es dazu auch andere Standpunkte geben kann, ja soll, das geht oft unter. Noch zu selten bringen auch wir Pro- und Kontra-Kommentare: Zu den meisten Streitfeldern gibt es eben nicht nur die eine, sondern auch die andere Position oder mehrere Standpunkte. Und zu oft agieren die klassischen Medien, also Zeitungen und ihre Online-Kanäle sowie Rundfunk und Fernsehen, im Tone des Oberlehrers: In zu vielen Journalisten steckt ein oft gar nicht so kleiner Besserwisser (ich schließe mich da keineswegs aus). Das erkennen viele, das nervt sie zu Recht.

Die Foren im Internet und die Kommentare auf Facebook verschärfen all das. Da wird hemmungslos ausgeteilt und beschimpft. Und es bilden sich knallharte Lager: Die einen attackieren die anderen. Es gibt ein Miteinander nur gegen andere. Annäherung, Diskurs, Austausch sind da nicht vorgesehen. Wahrheit lässt sich so nicht finden, Weisheit schon gleich gar nicht, Aufgeregtheit sehr viel, ja zu viel.

Oft fehlt es am Zweifel: Ist mein Standpunkt wirklich so felsenfest richtig? Hat der andere nicht auch ein Stück weit Recht? Wenigstens anhören sollte ich mir seine Argumente schon. Die Welt ist nicht so schwarz-weiß und überschaubar, wie sie gern gemalt wird. Die Wahrheiten, die sich gerade im Netz finden, sind oft zu einfach. Einfache Wahrheiten, einfache Lösungen – die sind populär in einer komplizierten und vernetzten Welt. Viele Menschen haben Sehnsucht danach, gerade weil die Welt kompliziert, unüberschaubar, höchst komplex und voller Grautöne ist. Die erkennt man erst beim genauen Hinsehen, beim Nachlesen und Zuhören. Überlebensnotwendige Eigenschaften für eine streitbare, aber nicht heillos zerstrittene Demokratie.

Noch einmal: Missionieren ist nicht unser Job. Unser Job ist es, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen, zu informieren, Fakten zu liefern, Aussagen und Meldungen auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklopfen und sie einzuordnen. Unaufgeregt, nüchtern, klar.

Was ist die Wahrheit? Für nicht wenige ist sie eben nicht mehr länger vor allem eine Sache des Wissens, eine Sache gesicherter Fakten. Sie wollen manches gar nicht wissen, wenn es ihrem einfachen Weltbild widerspricht. Für sie ist Wahrheit eine Sache des Glaubens. Sie glauben an die Welt, wie sie sich diese eingerichtet haben und wie sie ihnen vor allem im Internet auch präsentiert wird – weil sie übersichtlich ist und klare Bilder von Gut und Böse hat, Schubladen, in die alles sehr schnell hineinpasst. So entsteht ein Tunnelblick auf die Welt. Die sozialen Medien werden eher zu asozialen Medien. Weil sie den Blick verengen, statt ihn zu weiten, weil sich Menschen freiwillig Scheuklappen anlegen und nicht herausfinden aus ihrer Filterblase.

Was ist Wahrheit? Ein immer neues Ringen um sie, ein Informieren, Diskutieren, Streiten, Abwägen, Denken - und: „Denken heißt Vergleichen“, sagte Walter Rathenau. Es geht um eine Annäherung an Wahrheit, ums Verstehen, Erkennen, um Zusammenhänge.

Blicken wir in den Pressekodex, die Verhaltensregeln für unsere Branche, die der Presserat erarbeitet hat. Mit der Wahrheit beginnt interessanterweise auch die Ziffer 1 des Pressekodex:

"Wahrhaftigkeit und Achtung der Menschenwürde. Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse."

Eine sehr genaue Unterscheidung: Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Was soll diese Unterscheidung?

Die Wahrheit, schreibt dazu der gerade erst verstorbene Journalisten-Kollege Paul-Josef Raue, sei „ (…) Gott oder einer metaphysischen Instanz vorbehalten, sie gibt es nicht absolut, sie kann nie Menschenwerk sein. Die menschliche Variante der Wahrheit ist die Wahrhaftigkeit: Sie ist meine Wahrheit, um die ich mich bemühe und von der ich überzeugt bin – solange, bis ich neue Erkenntnisse habe und meine Wahrheit aus Überzeugung ändere. Wahrhaftigkeit ist die kluge Schwester der Wahrheit, ist Wahrheit im Fortschritt, jederzeit veränderbar aus Einsicht, nicht aus Kalkül oder Zwang.“

Journalisten müssen sich also, und das gilt durchaus als Standesregel, als Standespflicht, um Wahrhaftigkeit bemühen, damit sie sich der Wahrheit möglichst gewissenhaft, gründlich und nach gängigen Standards annähern. Sie tun dies leider nicht immer. Sie müssen es aber, wollen sie ihrem attackierten Berufsstand wieder zu Achtung und Ansehen verhelfen - und vor allem: wollen sie ihm ein Überleben ermöglichen. Auch dafür ist es unerlässlich, sorgfältig, gründlich, unaufgeregt und genau zu arbeiten.

Eine ganz logische Konsequenz aus diesem Ringen um Wahrhaftigkeit als Annäherung an die Wahrheit ist die Vielfalt der so entstehenden Berichte, Bilder, Wahrnehmungen und auch Einstellungen. Der unterschiedliche, nicht der einheitliche Blick bedeutet Vielfalt. Und die Vielfalt ist ja in gewissem Sinne auch das Gegenteil von Einfalt, vom zu einfachen, zu absolut urteilenden Blick auf Dinge.

Wir brauchen auf der Suche nach der Wahrheit den Meinungsstreit, den Disput, nicht das Einigsein. Und wir brauchen den Zweifel – auch ihn möchte ich loben. Denn ich habe etwas Angst vor Menschen, die keinerlei Zweifel haben – weil erst Zweifel zum Durchdringen, zur Wahrheit, führen und weg von absoluten Wahrheiten.

Wer keine Zweifel hat, ist im Zweifel Fundamentalist – er lässt auch keine anderen Meinungen gelten als seine eigene.

Zweifel bringen uns voran: Zweifel beim Blick auf die eigene Meinung, auch Glaubenszweifel: Wer an seinem Glauben zweifelt – und wer hätte das noch nie getan? - der reibt sich daran, setzt sich auseinander mit diesem Glauben, beschäftigt sich intensiver damit – und gewinnt oft neue Einsichten, neue Erkenntnisse, daraus dann neue Glaubensstärke.

Zweifel erlauben, zulassen, ja zur Tugend erheben: Das steht uns durchaus gut an. Den Medien, die Fakten hinterfragen und lieber einmal zu viel als einmal zu wenig prüfen sollten. Aber auch den Kirchen. Es gibt genügend andere Weltanschauungsangebote, die felsenfest von sich überzeugt sind. Aber kann man die Nachdenklichen nicht eher dadurch überzeugen, dass man eben nicht felsenfest überzeugt ist, sondern Zweifel und Fragen zulässt – und gerade dadurch Überzeugungskraft gewinnt?

Dafür ist es unabdingbar, dass wir Medien, dass Sie als Kirche oder Diakonie, glaubwürdig bleiben. Wir sollten zum Beispiel unsere laufenden Veränderungsprozesse ehrlich benennen und sagen, warum wir was anders machen und mit welchem Ziel. Und wir müssen „systemrelevant“ sein und bleiben. „Systemrelevant“, der Begriff ist Ihnen aus der Finanzkrise bekannt, als Banken so bezeichnet wurden: systemrelevant.

Systemrelevant müssen aber auch unsere Institutionen bleiben. Medien sind dann systemrelevant, wenn sie nach bestem Wissen und Gewissen und so gut und genau wie möglich das tun, was ihr Auftrag ist: Öffentlichkeit herstellen, Relevantes berichten, Aufdecken, was wo schief läuft und warum. Und auch das: Berichten, was gut läuft.

Und Kirchen? Sie sind dann systemrelevant, wenn sie für Menschen da sind, ihnen helfen. Mit Worten und mit Taten. Die Taten sind hier in Neuendettelsau kaum übersehbar. Diakonie, das ist gelebtes Christentum, das im Idealfall auch ausstrahlt auf andere.

Ausstrahlen – durch das, was wir tun. Die Diakonie und wir Medien – wir müssen dafür mit aller Leidenschaft arbeiten. Nur so, nur dann können wir andere überzeugen von dem, was wir tun. Nicht missionieren, sondern überzeugen. Überzeugen durch die möglichst präzise Annäherung an die Wahrheit: Das ist unser Job.

Lehrt und ermahnt einander in Weisheit. Das liest sich dann, beim Blick auf die buchstäbliche Notwendigkeit engagierten, leidenschaftlichen, gründlichen Arbeitens, durchaus nicht mehr wie ein Debattierclub der Oberlehrer. Sondern wie die nachvollziehbare Bitte, die eigene Arbeit stets zu reflektieren und zu überprüfen. Im Austausch, im Dialog, auch im Streit um der Sache willen.

Lehrt und ermahnt einander in Weisheit: Das kann dann durchaus eine gute Gebrauchsanweisung für unsere Annäherung an die Wahrheit sein.

Alexander Jungkunz / alexander.jungkunz@pressenetz.de

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