Ausbildung in Deutschland für junge Spanierinnen und Spanier: Zwei Beispiele

Diakoneo gibt jungen Europäern die Chance, die Jugendarbeitslosigkeit in ihrer Heimat hinter sich zu lassen – eine Bereicherung für beide Seiten

Den 1. März 2017 werden Patricia Lamas Marin und Kassandra Herrero wohl nie vergessen. Mit nur einem Koffer und ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, haben die beiden Spanierinnen an diesem Tag ihr neues Leben in Neuendettelsau begonnen. Ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) bei der Diakonie Neuendettelsau (jetzt: Diakoneo) sollte ihr Sprungbrett in eine berufliche Zukunft werden. Heute, fast zwei Jahre später, arbeiten sie als Pflegehilfskräfte in Einrichtungen für Kinder mit Behinderung. Wie war es für die beiden in ein anderes Land zu gehen? Wieso wollten sie nach Deutschland und was bringt ihnen die Zukunft?

Unsere Autorin Amanda Müller wollte mehr über die Beweggründe von Patricia und Kassandra erfahren: 

Patricia Lamas Marin und Kassandra Herrero kommen aus Spanien. Vor zwei Jahren kamen die beiden über den Verein „AGEyR“ nach Deutschland. In Zusammenarbeit mit der Diakonie Neuendettelsau ermöglicht der Verein jungen Spaniern eine Perspektive in Deutschland. In Neuendettelsau haben sie ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht, die Sprache gelernt und viele Eindrücke gesammelt.

Kassandra Herrero und Patricia Lamas Marin leben seit zwei Jahren in Deutschland.


Patricia ist 25 Jahre alt, Kassandra 26. Die beiden sind in meinem Alter. Während ich mein Heimatland bislang nur für ein Auslandssemester oder zum Reisen verlassen habe, wurde für die beiden Spanierinnen aus einem fremden Land ein neues Zuhause. Ich will wissen, wie es ist, wenn man plötzlich den Geburtstag ohne die Familie feiert oder seine Clique nicht mehr am Wochenende trifft. Vermissen sie ihre Heimat nicht? Patricia und Kassandra werfen sich einen kurzen Blick zu und heben die Schultern. „Wir kennen das nicht anders. Ich sehe meine Familie zweimal im Jahr. Meistens an Weihnachten und im Sommer. Aber das war schon so, als ich noch in Spanien studiert habe“, erzählt Patricia und streicht ihre langen braunen Haare hinters Ohr. Sie kommt aus Badajoz, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz direkt an der Grenze zu Portugal. Bei Kassandra ist es ähnlich. Sie stammt aus Zarza de Granadilla, einer Gemeinde in der Provinz Cáceres. Ihre Eltern leben noch dort, genauso wie ihr jüngerer Bruder, der dort eine Ausbildung begonnen hat. Ihre Schwester wohnt mittlerweile in Irland. Beruflich in ein anderes Land zu gehen, scheint für die beiden nichts Besonderes zu sein.

„Wir wachsen mit dem Gedanken auf, dass es normal ist, seine Heimat zu verlassen“

„In Spanien wächst man schon mit dem Gedanken auf, dass man vielleicht mal in einem anderen Land leben und arbeiten wird“, erzählen mir die beiden und begründen das mit der hohen Jugendarbeitslosigkeit, die es den jungen Menschen in Spanien seit vielen Jahren schwer macht, eine Anstellung zu finden. „Fast die Hälfte aller Jugendlichen sucht eine Arbeit. Es ist schwierig mit der Politik in Spanien. Viele junge Leute gehen fort“, sagen sie.

Kassandra und Patricia haben sich während ihres Studiums in Granada kennengelernt. Ins Ausland zu gehen hatten sie damals noch nicht geplant. Als sie nach ihrem Abschluss in Sozialpädagogik keine Anstellung finden konnten, hat sich das geändert. „Das größte Problem ist, dass viele Jugendliche nicht eingestellt werden, weil ihnen die Berufserfahrung fehlt. Aber wie sollen wir ohne einen Job Erfahrungen sammeln?“, fragt Patricia.


Über den Verein „AGEyR“ haben die beiden dann von der Möglichkeit des Freiwilligen Sozialen Jahres in Deutschland erfahren. Der Verein kooperiert mit Diakoneo und ermöglicht es spanischen Jugendlichen durch einen Freiwilligendienst (FSJ oder BFD) in Deutschland, sich neu zu orientieren. Patricia und Kassandra sehen darin eine Chance, die nötige Berufserfahrung zu sammeln und der Arbeitslosigkeit zu entkommen.

Mitte 2016 fliegen sie zum ersten Mal nach Deutschland und besuchen fünf Tage lang die Einrichtungen in Neuendettelsau. Danach steht für beide fest: Ja, wir wollen nach Deutschland!

Ein holpriger Start ins neue Leben

Als Patricia und Kassandra am Abend des 1. März 2017 in Nürnberg landen, ist ihnen mulmig zumute. Sie können kaum Deutsch, haben Hunger nach der langen Reise und wissen nicht, was sie erwartet. „Dann haben wir erfahren, dass unser Ansprechpartner krank ist und die Frau, die uns stattdessen abgeholt hat, leider kein Spanisch kann“, berichtet Patricia. Um das Chaos perfekt abzurunden, stehen sie in ihrem neuen Zuhause vor dem nächsten Problem: „Es war schon spät, wir hatten Hunger, aber alle Supermärkte waren schon geschlossen“, erinnert sich Kassandra. Auf der Suche nach etwas zu Essen sind die beiden dann durch Neuendettelsau gelaufen. „Wir konnten den Besitzer eines Kebab-Restaurants überreden, uns so spät noch einen Döner zu machen. Das war cool!“, erinnern sie sich.

Die nächsten Tage regeln sie alles Nötige, um ihr neues Leben zu beginnen. Sie eröffnen ein Konto, melden sich im Rathaus und beim Sprachkurs an und suchen sich einen Hausarzt. „Dabei haben wir uns nie alleine gefühlt. Uns hat immer jemand geholfen, wenn wir nicht weiter wussten“, sagen sie.

Am schwierigsten war die Sprachbarriere. „Ich weiß noch, wie mir ein Arzt geholfen hat, meine Medikamente zu übersetzen, damit ich wusste, was ich in der Apotheke bestellen muss“, erinnert sich Patricia und lacht. „Und ich hatte große Angst dass ich die Kinder in meiner Einrichtung nicht richtig verstehe und etwas falsch mache“, erzählt Kassandra.

Um Deutsch zu lernen, besuchten beide neben ihrer Teilzeitanstellung unter der Woche täglich einen vierstündigen Integrationskurs. „Der Sprachkurs war gut, aber richtig geholfen hat es, dass wir in der Arbeit nicht anders konnten, als Deutsch zu sprechen. Die Kinder haben uns immer verbessert, wenn wir etwas falsch gesagt haben“, berichtet Patricia.

„In Spanien fängt das Leben um 21 Uhr an“

Das Leben in ihrer neuen Heimat war für die beiden trotzdem eine große Umstellung. „Die Menschen hier sind zwar alle sehr nett zu uns, aber die Menschen in Spanien sind viel offener“, meint Kassandra. „Es ist für uns zum Beispiel normal, jemanden auf der Straße anzusprechen“, fügt Patricia hinzu.

Besonders schwer war es für die beiden Frauen auch, während des Frühdienstes pünktlich in der Einrichtung zu sein. „In Spanien fängt das Leben um 21 Uhr an. Die Supermärkte öffnen erst um 10 Uhr, Restaurants um 20 Uhr. Wir haben oft erst um 22 Uhr zu Abend gegessen“, sagen sie.

An das deutsche Essen haben sich die beiden mittlerweile gewöhnt. Besonders Butterbrezen oder Leberkäse haben es ihnen angetan. „Die ersten paar Monate hatte ich nach dem Essen oft Bauchschmerzen“, verrät mir Kassandra. Sie vermutet, dass es an den Milchprodukten liegt, die in spanischem Essen eher selten vorkommen. Spanisch kochen sie aber immer noch sehr oft. „Besonders die Kinder freuen sich, wenn wir in der Einrichtung zusammen etwas Spanisches kochen“, freut sich Patricia und erzählt von ihrem Lieblingsessen, Tortilla de Patata, einem Omelette aus Eiern und Kartoffeln.

Kassandra arbeitet mit Kindern mit Behinderung. Die kleine Alexia hat sie erst vom Kindergarten abgeholt und isst jetzt mit ihr zu Mittag.

Auch an das Wetter haben sich die beiden Spanierinnen noch nicht gewöhnt. Schnee kannten sie nur auf der Spitze hoher Berge. Was verschneite Straßen oder die klirrende Kälte im tiefsten Winter bedeuten, haben sie erst in Deutschland erfahren. „Seit wir hier leben haben wir uns schon mit dicken Socken, Handschuhen und Winterschuhen eingedeckt“, verraten die beiden.

So viel Schnee wie in Deutschland war für die beiden eine vollkommen neue Erfahrung. An den Schnee haben sie sich mittlerweile gewöhnt – das kalte Wetter mögen sie aber trotzdem nicht.


Ihre Entscheidung nach Deutschland zu gehen, bereuen sie nicht. Nur manchmal, wenn etwas schief läuft, fragen sie sich, ob es das alles wert ist. „Aber wir sind Diakoneo sehr dankbar, dass wir diese Möglichkeit bekommen haben“, betonen sie.

Im Mai wollen die beiden zusammen mit einer Freundin in eine WG ziehen. Danach hoffen sie, dass ihre akademischen pädagogischen Abschlüsse auch hier anerkannt werden. „Bis dahin sammeln wir weiter Erfahrung. Auch wenn Kassandra sich viele Gedanken um die Zukunft macht, leben wir im Hier und Jetzt. Ich gehe einen Schritt nach dem anderen“, sagt Patricia.

Perspektiven schaffen – Europa verändern

Dass Kassandra und Patricia in Deutschland eine berufliche Perspektive erhalten haben, verdanken sie dem Verein „AGEyR“ und Diakoneo. Thorsten Walter, der Leiter des Instituts für internationale Zusammenarbeit, koordiniert das Projekt seit Anfang an. Er war selbst für ein FSJ in Mexiko, hat dort Spanisch gelernt und weiß von der großen Chance, die dahintersteckt.


Thorsten Walter leitet das Institut für internationale Zusammenarbeit und unterstützt die beiden Spanierinnen bei allen Fragen.

Thorsten Walter erklärt mir, wie das Projekt „Perspektiven schaffen – Europa verändern“ zustande kam:

Frage: Warum unterstützt die Diakoneo junge Europäer?

Thorsten Walter: Wir bei Diakoneo tragen Verantwortung in ganz Europa. Als in den Jahren 2011/2012 die Krise in Spanien ihren Höhepunkt erreichte und die Hälfte der Jugendlichen arbeitslos war, haben wir uns überlegt, wie wir helfen könnten. Der Hintergrund ist auch der bei uns vorherrschende Fachkräftemangel. Da wir keine Fachkräfte abwerben, sondern den jungen Menschen eine neue Perspektive geben wollen, haben wir uns eine Alternative überlegt und haben im Verein „AGEyR“ einen engagierten Partner gefunden.

Frage: Wie kann ich mir das Projekt vorstellen?

Thorsten Walter: Der Verein „AGEyR“ informiert in Spanien junge Erwachsene über das transnationale Projekt. Sie klären sie über die Möglichkeiten des FSJ auf und erzählen von der Arbeit in unseren Einrichtungen. Danach können sich die Interessierten bei uns bewerben und für fünf Tage hier hospitieren. Haben sie sich für eine Einrichtung in Neuendettelsau oder Nürnberg entschieden, kann es losgehen.

Frage: Welche Unterstützung bekommen sie hier in Deutschland?

Thorsten Walter: Alle Spanier besuchen den Integrationskurs, der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefördert wird. Da sie deswegen nur eine Teilzeitstelle antreten können, kommen wir für die übrigen Stunden auf. Danach ermöglichen wir ihnen einen individualisierten Internetsprachkurs für das B2-Niveau. Alle bekommen bei uns das normale FSJ-Gehalt. In Neuendettelsau stellen wir ihnen eine Wohnung und unterstützen sie bei der Wohnungsausstattung. In Nürnberg übernehmen wir die Kosten für die Wohnung. Das alles können wir nur Dank unserer Spender ermöglichen. Wir sind sehr froh, dass es so viele Menschen gibt, die das Projekt unterstützen. Auch den Einrichtungen sind wir dankbar, dass sie offen für Menschen sind, die die Sprache noch nicht so gut sprechen.

Frage: Wie geht es danach weiter?

Thorsten Walter: Nach dem FSJ arbeiten die meisten noch ein Jahr lang als Pflegehilfskraft, um ihre Sprache zu verbessern. Danach setzen wir uns mit ihnen zusammen und überlegen, welche Möglichkeiten und Optionen in Frage kommen. Wenn sie hier bleiben wollen, können sie zum Beispiel versuchen, ihren spanischen Abschluss anerkennen lassen oder hier eine neue Ausbildung beginnen. Kassandra und Patricia sind eine große Bereicherung für ihre Teams. Die Leitungen erzählen mir immer wieder, wie engagiert die beiden Frauen sind. Das Projekt ist eine Bereicherung für beide Seiten.

Mehr Informationen rund um die Europaprojekte der Diakonie Neuendettelsau
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